Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wenn Teenager sich nicht entscheiden können

Entscheidungen treffen muss man lernen und üben – auch wenn es keinen Spaß macht.

„Da ist eine E-Mail von der Schule bekommen. Ich muss einen Kurs für die Oberstufe abwählen. Ich habe sonst zu viele Stunden und zu viel Stress“, teilt Lara (16) nachmittags beim gemütlichen Familiengrillen mit. Dass die gesamte Familie gemeinsam einen Tag im Garten zusammenhockt, ist inzwischen nicht mehr selbstverständlich. Lara verbringt ihre Zeit am liebsten mit ihren Freunden oder allein und hält sich nicht mehr unnötig lange bei uns auf. Selten gibt es Gelegenheit, in entspannter Atmosphäre ernsthafte Gespräche mit ihr zu führen, ohne dass sie nach spätestens zehn Minuten genervt die Flucht ergreift. Das ganze Blabla von uns ist ihr zu anstrengend. Nervtötend. Zu viele Fragen. Jugendliche scheuen elterliche Verhöre und erkennen sofort, wenn Eltern versuchen, ein paar Informationen im Plauderton aus ihnen herauszukitzeln. Wer ist denn dieser Leon, der letztens hier war? Auf welche Schule geht er? Und woher kennst du Marta? Was habt ihr den ganzen Abend gemacht? War es nett? Tust du genug für die Schule?

Fragen, die Lara knapp oder manchmal gar nicht beantwortet, je nachdem, wie es ihr Gemütszulage gerade zulässt. Mal ist sie zugänglich und wir kriegen eine Unterhaltung hin. Ein anderes Mal ist jedes an sie gewandte Wort zu viel. Gespräche über ihre Zukunft oder die Schule gestalten sich momentan besonders schwierig. „Mensch, ich bin sechzehn. Ich will meine Jugend genießen“, betont sie. „Da gibt es wichtigere Dinge als die Schule. Und ich kann doch jetzt noch nicht wissen, was ich für den Rest meines Lebens machen will.“ Mit sechzehn malt man sich keine berufliche Super-Zukunft in bunten Farben aus. Mit sechzehn träumt von der großen Liebe. Vom perfekten Sommer. Von Partys und Reisen mit den Freunden. Vom Führerschein. Zukunft findet für die meisten Jugendliche nur kurz- und maximal mittelfristig statt.  

Aber nun hat Lara die Igitt-Schule-Zukunft-Sache auf die Grillplatte gelegt und daher sehe ich es als mein gutes Recht an, dieses Thema nun einmal ordentlich durchzugaren. „Bis wann musst du Bescheid geben? Was willst du abwählen? Du weißt, jedes Fach, das du nun abwählst, kannst du nächstes Jahr auch nicht mehr nehmen. Du musst dich ja hier und heute nicht für einen Beruf oder einen Studiengang entscheiden. Aber dir sollte zumindest klar sein, in welche Richtung du gehen willst, damit du deine Schwerpunkte dementsprechend wählen kannst.“ Corona hat in den letzten Wochen nicht nur unzählige Unterrichtsstunden geschluckt, sondern auch die Termine und Gespräche in der Schule, die zur ersten Berufsorientierung dienen sollten. So wie der Besuch des Berufsinformationszentrums, der eigentlich letzten Monat für die Stufe 9 angedacht war. Dort hätte Lara sich zwangsläufig mit diesen Themen befassen müssen. Auch der Frankreich-Austausch, der ebenfalls wegen Corona nicht stattfand, hätte Lara eventuell bei ihrer Entscheidung, ob sie die französische Sprache auf Dauer weiterführen möchte oder nicht, geholfen. Sprachen, die kann man doch immer gebrauchen. „Also, wie entscheidest du dich? Was wählst du ab?“, fragte ich Lara. Sie zuckt nur die Schultern und macht ein finsteres Gesicht. Sie will in Ruhe ihr Grillsteak und ihre Melone essen und bereut offensichtlich zutiefst, das Thema angeschnitten zu haben. Denn nun hängt sie am Familientisch fest. Zumindest so lange, bis ihr Teller leer und ihr Magen halbwegs gefüllt ist.

Lara bemerkt oft und nachdrücklich, dass sie keine Einmischung in ihre Angelegenheiten wünscht und ihre eigenen Entscheidungen treffen will. „Das ist meine Entscheidung“, sagt sie, wenn ich von ihr verlange, ihr Zimmer aufzuräumen oder sie frage, ob sie wirklich so spät abends noch fettigen Mist essen muss. „Das ist meine Sache, mein Zimmer und meine Ernährung.“  Und dann gibt es die Momente, in denen sie sich die ein oder andere Entscheidung gerne abnehmen lassen würde. Das ist praktisch. Denn wenn sie das Gefühl hat, sie wurde falsch beraten, kann sie dem Berater den schwarzen Peter zuschieben: „Du hast doch gesagt, es ist nicht so kalt und ich brauche keine Jacke. Jetzt friere ich wegen dir.“ Deswegen gebe ich zwar nach wie vor gerne Ratschläge, werfe aber grundsätzlich hinterher: „Das würde ich machen, wenn ich an deiner Stelle wäre. Aber im Endeffekt musst du das selbst entscheiden.“

Vor einigen Monaten kam Lara unentschlossen zu mir: „Neele hat mich gefragt, ob ich die erste Sommerferienwoche mit ihr nach Holland fahre. Aber eigentlich wollen Lisa, Paula, Alexandra und ich in das Haus von Alexandras Eltern an die Nordseeküste. Und die Bücherei hat gefragt, ob ich dieses Jahr wieder beim Sommerleseclub aushelfe.“ Ich sagte: „Das musst du selbst wissen. Deine Entscheidung.“ Drei Möglichkeiten. Damit war Lara überfordert. „Würdest du Holland denn erlauben?“, bohrte sie nach. „Klar, warum denn nicht!“, antwortete ich und sah sofort, dass das nicht ihre erhoffte Antwort war. „Mist. Wenn du mir jetzt wenigstens Holland verbieten würdest, dann müsste ich mich nur noch zwischen Nordseekaff und Bücherei entscheiden.“  In Lara tobte ein Kampf. Da waren auf der einen Seite ihre Freundinnen, die sie nicht vor den Kopf stoßen wollte und die Angst, etwas in Holland oder an der deutschen Nordseeküste zu verpassen. Anderseits bedeutete der Job in der Bücherei Bargeld und Flexibilität. Sie könnte sich zu Hause mit vielen verschiedenen Leuten verabreden und ins Schwimmbad gehen. Da ich ihr nicht helfen wollte, fuhr Lara die Aufschiebe-Strategie. Sie schob die Entscheidung möglichst lange auf und hoffte, dass sich irgendetwas von selbst erledigen würde. Und so kam es durch die aktuelle Situation, dass beide Freundinnen-Fahrten gecancelt wurden. „Wir fahren nun doch nicht zusammen, wegen Corona und so. Ich habe in der Bücherei fest zugesagt. Dann verdiene ich wenigstens Geld und kann ins Freibad gehen“, sagte sie erleichtert.  

Doch das Fächerwahl-Problem ist nicht aufschiebbar und wird sich auch nicht von selbst in Luft auflösen. Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen, gehört zum Erwachsenwerden dazu. Teenager müssen lernen, auch unbequeme Entscheidungen mit weitreichenden Folgen zu treffen und gleichzeitig damit leben, wenn sie im Nachhinein das Gefühl bekommen, falsch entschieden zu haben. Dieses Gefühl wird ihnen in ihrem Leben noch sehr, sehr oft begegnen. So wie uns alle hin und wieder.

„Wähl doch Geschichte ab“, schlage ich vor. „Bist du verrückt? Ich liebe Geschichte“, erwidert Lara entrüstet. „Dann Philosophie“, sage ich. Lara schüttelt den Kopf. „Hä? Auf gar keinen Fall! Ich bin total gut.“ Natürlich weiß ich, dass meine Tochter weder Geschichte noch Philosophie abwählen würde. Das geht auch gar nicht, es sei denn, sie schmeißt ihre Kurse komplett um. Aber nun war sie wenigstens aus ihrer Egal-Haltung aufgewacht. „Na also“, sage ich daher. „Dir ist also klar, welche Fächer du nicht abwählen willst. Jetzt musst du nur noch mit dem Ausschlussverfahren arbeiten.“ Lara verdreht die Augen. Schon wieder viel zu kompliziert und oberlehrerhaft. Sie mag jetzt nicht nachdenken. Doch letztendlich kommt sie mit ein wenig Hilfestellung zu einem Ergebnis: Die dritte Fremdsprache muss dieses Jahr schon weg. „Ich weiß, dass ich mit Sprachen immer etwas anfangen kann. Aber ich bin nicht so mega sprachbegabt. Ich spreche inzwischen Spanzösisch, weil ich alles durcheinanderschmeiße.“

Ob sie nun Französisch oder Spanisch abwählen soll, erfordert leider genau die Entscheidung, die Lara gerne aufgeschoben hätte. „Welche Sprache liegt dir denn nun mehr?“, versuche ich das Ergebnis voranzutreiben. Lara zuckt die Achseln. „Eigentlich mag ich Spanisch lieber. Aber ich habe Französisch nun schon so viele Jahre und wollte doch den Frankreichaustausch nachholen. Ich weiß es nicht. Ich kann mich wirklich nicht entscheiden.“ Sie weiß nur, dass ihr Teller inzwischen leer ist und sie sich nun wieder auf ihre Sonnenliege verziehen wird. Ein paar Stunden später wird sie die längst fällige Entscheidung treffen und damit leben müssen. Und wir als Eltern müssen derweil einsehen, dass wir nicht nur wenig mitzureden haben, sondern auch den quälenden Prozess kaum beschleunigen können.